„Wunderwaffe“ V-2: Die erste ballistische Rakete traf in Chiswick im September 1944 ein - WELT (2024)

Am 8. September 1944 gegen 18.40 Uhr Ortszeit schlug die erste als strategische Waffe eingesetzte ballistische Rakete in Chiswick nahe der Themse ein. Das „Aggregat 4“, besser bekannt als „V-2“, hält einen traurigen Rekord der Militärgeschichte.

Anzeige

Joseph Goebbels freute sich: „Die Abendlage enthält eine angenehme Nachricht, nämlich dass nun endlich A4 erstmalig zum Einsatz kommen soll“, diktierte er seinem Sekretär am frühen Morgen des 6. September 1944. Fraglich sei noch, ob London oder das zwei Wochen zuvor von den Alliierten befreite Paris das Ziel sein solle. „London natürlich, wenn unsere Abschussräume noch ausreichen“, fand der Propagandaminister: „Sonst soll Paris an die Reihe kommen. Den Parisern wird dann sicherlich die Freude an der neuen englisch-amerikanischen Besetzung bald vergehen. Schön wäre es natürlich, wenn wir London beschießen könnten. Das passte so recht in die gegenwärtige Siegesstimmung in der britischen Hauptstadt hinein.“

„A4“ stand für „Aggregat 4“. Die Bezeichnung für den ersten einsatzbereiten ballistischen Flugkörper der Welt war bewusst vage gewählt. Der erste Schuss erfolgte am 8. September 1944 gegen 18.37 Uhr Ortszeit. Die 2. Batterie des Artillerie-Regiments 485 der Wehrmacht feuerte zwei Raketen ab; die Startrampen standen in Wassenaar, einem Vorort von Den Haag in den Niederlanden.

Anzeige

Wenige Sekunden vor 18.41 Uhr schlug die eine Rakete in der Staveley Road im Londoner Vorort Chiswick nahe der Themse ein, und zwar auf der Straße zwischen den Häusern mit den Nummern 1 und 5. Die 738 Kilogramm Sprengstoff im Gefechtskopf detonierten und richteten gewaltigen Schaden an: In die Mitte der Straße klaffte ein knapp drei Meter tiefer Krater, alle Gas- und Wasserleitungen wurden zerstört. Drei Menschen kamen ums Leben: eine 67-jährige Frau, ein dreijähriges Mädchen und ein Soldat auf Heimaturlaub; 17 weitere wurden verletzt. Elf Häuser waren total zerstört, zwölf weitere so schwer beschädigt, dass sie unbenutzbar blieben. Mehr als 500 Gebäude trugen reparable Blessuren davon.

Zu den Verletzten gehörte der sechsjährige John Clarke, dessen Schwester Rosemary starb. Sie war im Moment des Einschlages im vorderen Schlafzimmer im oberen Stockwerk des Hauses der Familie in der Staveley Road Nr. 1 gewesen, er im Badezimmer an der Rückseite des Hauses.

Anzeige

Ungefähr zeitgleich explodierte die zweite Rakete in einem Wald bei Epping, etwa 31 Kilometer nordöstlich von London. Hier starben nur Tauben und Kaninchen, aber keine Menschen.

„Wunderwaffe“ V-2: Die erste ballistische Rakete traf in Chiswick im September 1944 ein - WELT (2)

Angesichts dieser Auswirkungen war der Chef des deutschen Raketenprogramms, Walter Dornberger, ziemlich unzufrieden. Eigentlich sollten seine Flugkörper die Innenstadt von London treffen, doch die eine war gut zehn Kilometer Luftlinie westsüdwestlich von 10 Downing Street eingeschlagen, die andere sogar dreimal so weit nordöstlich. Ähnlich war es bei den nächsten beiden Schüssen am 10. und 11. September, die North Fambridge in Essex an der Themsemündung und Orpington südlich der britischen Hauptstadt trafen.

Lesen Sie auch

  • „Wunderwaffe“ V-2: Die erste ballistische Rakete traf in Chiswick im September 1944 ein - WELT (3)

    Ressort:Zweiter WeltkriegMarschflugkörper V-1

    „Explosion folgt in 5 bis 15 Sekunden. Sucht deshalb festesten Schutz“

Doch nun entfaltete ein äußerst machtvolles Phänomen Wirkung: das Hörensagen. Seit Juni 1944 hatten mehr als tausend Flugbomben des Typs V-1 London und Umgebung getroffen. Ein wesentlicher Teil ihrer destruktiven Kraft war psychologisch, denn sie röhrten vernehmlich längere Zeit durch die Luft, bevor sie verstummten und fünf bis 15 Sekunden später einschlugen. Die im September 1944 eingesetzte neue Waffe, deren Trümmerteile gesichert und von britischen Ingenieuren analysiert wurden, kam dagegen völlig unvermittelt.

In Berlin erfuhr Goebbels von den ersten Auswirkungen: „Erfreulich ist die Nachricht, dass London wieder von unseren Vergeltungsgeschossen bombardiert wird“, diktierte er in der Nacht zum 20. September 1944: „Das wird der Bevölkerung der britischen Hauptstadt sicherlich alles andere als angenehm sein.“

N24 Doku – Der Sender für Dokumentationen und Reportagen

„Wunderwaffe“ V-2: Die erste ballistische Rakete traf in Chiswick im September 1944 ein - WELT (4)

Die Waffe, die immer noch keinen offiziellen Namen außer der technischen Bezeichnung A4 hatte, war 14,02 Meter lang und hatte einen Durchmesser von bis zu 1,65 Metern. Am Heck gab es vier Leitwerksflossen, deren Spannweite 3,56 Meter betrug – ihre Größe orientierte sich an der lichten Weite von Tunneln, weil die Raketen mit der Eisenbahn transportiert wurden. Unbetankt wog jede A4 etwas mehr als vier Tonnen. 975 Kilogramm machte davon der 2,01 Meter lange Kopf aus, gefüllt eben mit 738 Kilogramm Sprengstoff.

Betankt wurde die Rakete mit rund vier Tonnen einer Mischung aus Methylalkohol und Wasser („B-Stoff“) sowie 5,5 Tonnen flüssigem Sauerstoff („A-Stoff“). Nach der Zündung wurden durch kleine Düsen pro Sekunde bis zu 58 Kilo „B-Stoff“ und 72 Kilo Sauerstoff in die Brennkammer gedrückt, wo sie bei 2500 Grad Celsius reagierten. Der so entstehende Schub entsprach maximal fast 650.000 Pferdestärken und beschleunigte die Rakete binnen 63 Sekunden auf 1500 Meter pro Sekunde. Die gesamte Brenndauer betrug etwas mehr als 70 Sekunden; den Rest des Fluges absolvierte die A4 ohne Antrieb. Insgesamt 320 Sekunden nach Zündung schlug die Rakete etwa 300 Kilometer vom Startpunkt entfernt ein.

Lesen Sie auch

  • „Wunderwaffe“ V-2: Die erste ballistische Rakete traf in Chiswick im September 1944 ein - WELT (5)

    Ressort:Zweiter WeltkriegSS-General Hans Kammler

    Hitlers Geheimwaffenchef soll den Krieg überlebt haben

Noch im September 1944 übernahm der SS-Obergruppenführer Hans Kammler die Verantwortung für die A4. Der 1905 geborene studierte Architekt, NSDAP-Mitglied seit 1932, hatte eine steile Karriere gemacht und war seit 1941 verantwortlich für alle Bauprojekte von Himmlers SS. Damit war er zuständig für den Ausbau von Auschwitz-Birkenau zum Vernichtungslager und ab 1943 für die mit Sklavenarbeitern aus KZs betriebene Verlagerung deutscher Rüstungsbetriebe unter die Erde. Nun wurde er zum Geheimwaffenchef des Dritten Reiches.

Wieder freute sich Joseph Goebbels: „Kammler hat diesen Einsatz jetzt unter seine Regie genommen“, heißt es im Diktat vom 24. September 1944. „Und zwar schießt er von den verschiedensten Positionen aus, um die Engländer nicht auf seine Abschussstelle aufmerksam zu machen.“ Er habe, so der Propagandaminister, „eine ganze Reihe von Schüssen in die englisch-amerikanischen Truppenansammlungen in Frankreich hineingegeben, ein paar auf Paris, eine ganze Reihe auf London und sehr viele schon auf das südöstliche Gebiet von England“. Das stimmte zwar nicht, aber das lag wohl am mangelnden technischen Verständnis, das der studierte Germanist Goebbels hatte.

Ab dem 27. September 1944 sprach er in seinen Diktaten von der V-2, der „Vergeltungswaffe 2“ analog zur V-1, und bald setzte sich dieser Begriff durch. Insgesamt ließ Hans Kammler bis zum 27. März 1945 rund 1360 Raketen Richtung London schießen. 1119 Einschläge registrierten britische Stellen, die etwa 2750 Zivilisten töteten und 6500 weitere verletzten. Weitere rund 1600 V-2 flogen gegen Antwerpen sowie gut 200 auf andere Ziele, mit insgesamt weiteren etwa 5300 Todesopfern.

Damit ist die V-2 wohl die einzige Waffe der Militärgeschichte, deren Serienfertigung mehr Tote forderte als ihr Einsatz. Denn vor allem im KZ Mittelbau-Dora, aber auch an anderen Standorten von Kammlers Rüstungsreich starben zwischen 15.000 und 20.000 Häftlinge in direktem Zusammenhang mit der Herrichtung der Fertigungsanlagen oder dem Bau der Raketen; das hat Jens-Christian Wagner festgestellt, der Leiter der thüringischen Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

„Wunderwaffe“ V-2: Die erste ballistische Rakete traf in Chiswick im September 1944 ein - WELT (2024)
Top Articles
Latest Posts
Recommended Articles
Article information

Author: Tyson Zemlak

Last Updated:

Views: 6416

Rating: 4.2 / 5 (43 voted)

Reviews: 90% of readers found this page helpful

Author information

Name: Tyson Zemlak

Birthday: 1992-03-17

Address: Apt. 662 96191 Quigley Dam, Kubview, MA 42013

Phone: +441678032891

Job: Community-Services Orchestrator

Hobby: Coffee roasting, Calligraphy, Metalworking, Fashion, Vehicle restoration, Shopping, Photography

Introduction: My name is Tyson Zemlak, I am a excited, light, sparkling, super, open, fair, magnificent person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.